Kürzlich habe ich den folgenden Satz auf Loretta Goulds facebook-Seite entdeckt: »Colors heal your spirit«. Loretta Gould, 43 Jahre jung, ist eine Mi´kmaq-Künstlerin und lebt auf Cape Breton Island. Die Mi´kmaq, ein Indianerstamm, besiedeln seit Tausenden von Jahren die Atlantik-Provinzen des östlichen Kanada sowie Maine in den USA. Ihr Land nannten sie Mi´kmaqi.

Lorettas Bilder erstrahlen in leuchtend klaren Farben im Friends United International Convention Center

Lorettas Bilder erstrahlen in leuchtend klaren Farben im Friends United International Convention Center und ziehen die Blicke wie magisch an. Dort treffen wir uns eines Nachmittags zu einem Gespräch.
Wir steigen eine Treppe hinauf, an ausgestellten Quilts vorbei, Patchwork-Decken, mit denen Loretta viele Jahre lang für ihre recht große Familie den Lebensunterhalt verdient hat. Dann gelangen wir in jenen Raum, der Loretta und ihren Werken gewidmet ist.
Durch ein Glasfenster kann man ihre erste Patchwork-Decke bewundern, die der Landerschließer und Initiator der Friends United-Initiative, Rolf Bouman, einstmals erworben hat. Vier Frauen in wunderschönen bunten Kleidern sind von hinten zu sehen, akkurat und symmetrisch genäht
– ein Motiv, das auf späteren Gemälden in etlichen Variationen immer wieder auftauchen wird.

Mit Quilts nahm die Karriere der sechsfachen Mutter ihren Anfang

Mit Quilts nahm die Karriere der sechsfachen Mutter ihren Anfang. In einer Mall, einem Einkaufszentrum, verliebte sie sich in einen Quilt, konnte sich diesen aber nicht leisten. Viele Jahre später versuchte sie dann einfach selbst, einen Quilt zu nähen und zu gestalten.
Daraus wurde eine Passion und weitere Jahre des Quiltens folgten: Stoffe zuschneiden und zu einem wirkungsvollen Ganzen zusammennähen.
Auf diese Weise übernahm Loretta eine Kunst, die von den Europäern seinerzeit nach Kanada importiert und dann von den Mi´kmaq aufgegriffen und mit indianischen Motiven weiterentwickelt wurde.

Dann ging Lorettas Nähmaschine kaputt

ann, im Jahre 2013, ging Lorettas Nähmaschine kaputt. Ein großes Unglück. Für eine deutsche Frau wäre das wohl in den meisten Fällen kein größeres Problem gewesen, für Loretta war es existenziell. Denn sie hatte nicht die Mittel für ein neues Gerät.
Rolf Bouman, der Gründer des Friends United International Convention Center, hatte bereits einige ihrer Quilts erworben, da er ihr großes künstlerisches Talent erkannt hatte.
Er stellte ihr Pinsel, Farbe und Leinwand zur Verfügung und ermutigte sie immer wieder zum Malen. Denn Loretta traute sich die für sie neue künstlerische Betätigung anfangs nicht zu. Dann, irgendwann, saß Loretta zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer Palette vor aufgespannter Leinwand.
Seitdem, und das ist nun sechs Jahre her, malt Loretta und hat die Quilts, im wahrsten Sinne des Wortes, an den Nagel gehängt.
Der inzwischen verstorbene Künstler Jay Bell Redbird – gleichfalls ein indianischer Künstler-Freund Rolf Boumans – brachte ihr einige Grundlagen wie das Zeichnen von Linien bei und inspirierte sie.

Heute begibt sich Loretta jeden Morgen vor ihre Leinwand

Heute begibt sich Loretta jeden Morgen vor ihre Leinwand und nach ein bis zwei Wochen ist ein Bild fertig. Kaum hat sie den Pinsel aus der Hand gelegt, fotografiert sie noch mit farbig-bunten Fingern ihr neuestes Werk, stellt es auf facebook ein – und ab geht das Post in die weite Welt.
Ihr Rekord: In nur 20 Minuten hatte sich ein Liebhaber von einem farbenfrohen Werk faszinieren lassen und schon war es verkauft. „Sold“, verkauft, lesen dann die facebook-Freunde in regelmäßigen Abständen.

Bei Loretta boomt es. Ihre neueste Geschäftsidee heißt commissions

Nachdem das Gemälde getrocknet ist, und das geht bei Acryl im Vergleich zu Öl-Farben relativ schnell, eilt Loretta zur Post und ab geht die Post – gelegentlich bis nach Deutschland oder in andere Länder. Bei Loretta boomt es.
Ihre neueste Geschäftsidee heißt commissions: Interessenten geben Bilder nach eigenem Gusto in Auftrag.
Loretta hat einen eigenen typischen Stil und ihre Ideen fließen direkt aus ihrem Herzen, aus ihrem tiefen Sinn für ihre ureigene und Jahrtausende alte Kultur. An Themen mangelt es nicht, denn in ihrer community passieren viele schöne, doch auch sehr erschütternde Geschichten.
Momentan beschäftigen die talentierte Frau die „missing murdered women“: Mädchen und Frauen, die früher unter mysteriösen Umständen verschwanden und später tot aufgefunden wurden. Im Laufe der Jahre sind Tausende von indigenen Frauen auf diese Weise spurlos verschwunden.
Niemand wusste, wer oder was dahinter steckte. Bedauerlicherweise waren die Prioritäten der Behörden bei der Aufklärung der Fälle nicht sonderlich hoch.
Das Blatt hat sich heute zum Glück gewendet und man geht den schrecklichen Ereignissen intensiv nach. Besonders alte Fälle werden neu aufgerollt.
Über diese erschütternden Fälle hat Loretta zum Beispiel ein Triptychon gemalt, drei Bilder, die eine kleine Story erzählen.
Auf den zweiten Blick ahnt man erst die tragische Geschichte, die sich hinter dem Bilder-Trio verbirgt.
Spannung zwischen fröhlicher Ausstrahlung und zutiefst erschütternder Botschaft Ich möchte von Loretta wissen, warum ihre Kunstwerke diese Spannung zwischen fröhlicher Ausstrahlung und zutiefst erschütternder Botschaft spiegeln. Ihre lapidare Antwort: „Ich will darauf aufmerksam machen!“
Das gelingt ihr. Loretta möchte Emotionen wecken und diese in die Seelen brennen. Sie ist und bleibt ein Naturtalent.

Heute gehört sie zur ersten Riege der sehr erfolgreichen nordamerikanischen First Nation-Künstler. Doch in allem strahlt sie eine ruhige Bescheidenheit, ein gesundes Selbstwertgefühl und auch Respekt demjenigen gegenüber aus, dem sie begegnet.
Sie verrät mir, dass sie vor unserem Treffen eine sogenannte smudging-Zeremonie vollzogen hat. Mit diesem Ritual, das sehr viele First Nation-Mitglieder allein oder in einem Kreis praktizieren, wird die Seele mit Gutem gefüllt.
Kräuter werden angezündet und beim Sich-Zufächern des Rauchs werden negative Gedanken vertrieben Kräuter werden angezündet und beim Sich-Zufächern und Inhalieren des Rauchs werden negative Gedanken vertrieben und gute gewinnen die Oberhand. Der Weg für Loretta, mit Rassismus, der ihr bisweilen auch heute noch begegnet, gut umzugehen. Ihre Seele wird dadurch geläutert und sie betet währenddessen für Menschen, die ihr nicht wohlgesonnen sind.
Auch ihren Kindern und ihrem Enkel Jayden möchte sie Gutes weitergeben, damit sie sich nicht von Alkohol oder Drogen verführen lassen. Alkohol nennt sie „Devil Water“ – Teufelswasser. Das kam vor vielen Jahrhunderten mit dem „Weißen Mann“ über den Atlantik.
Respekt ist eine der Tugenden, die zu den Seven Sacred Teachings , den Sieben Heiligen Lehren, gehört, die für die Mi´kmaq und viele andere First Nations-Stämme sehr bedeutend sind. Jede Tugend wird durch ein Tier repräsentiert.
Diese sieben Tugenden oder Lehren variieren jedoch von Fall zu Fall und von Stamm zu Stamm, doch die Grundprinzipien bleiben immer die gleichen.
Loretta hat mir ihre Version auf facebook geschrieben und sie ist für mich bisher die Erste, die den Menschen einbezogen hat:

Der Adler stellt Liebe dar
Der Büffel Respekt
Der Biber Weisheit
Der Wolf Demut und Bescheidenheit
Die Schildkröte Wahrheit
Der Bär Mut
Und der Mensch Ehre

Denn der Mensch soll Teil dieser Tugenden sein, da er genauso wie die Tiere zur „mother earth,“ Mutter Erde, gehört.
Loretta hat diese Werte auf einem Gemälde mit sieben Frauen personifiziert. Die Seven Sisters, die „Sieben Schwestern“, spiegeln klare Farben und klare Linien wider und nichts Verwischtes und Verschwommenes. Loretta selbst verfolgt klare Ziele und eine klare Botschaft, die sie in die Welt tragen möchte.
Viele ihrer Bilder haben einen blauen Hintergrund – die Lieblingsfarbe von Loretta. Blau dominiert auch einige Gemälde, die in ihrem Raum hängen, in dem wir das Interview führen. Dort erblickt man zum Beispiel einen Wolf und einen Bären, beide mit Blau umrahmt, sodass andere leuchtende Farben noch deutlicher hervortreten.
Loretta liebt ihre Familie und hat schon früh geheiratet Loretta liebt ihre Familie und hat schon früh, das heißt mit 17 Jahren, geheiratet. In ihrer community ist das keine Seltenheit.
Ihr ältester Sohn ist heute 25 Jahre alt. Ihr Mann war Fischer, musste diesen Beruf jedoch aus gesundheitlichen Gründen aufgeben und in den USA sein Glück versuchen.
Als er sein neugeborenes Kind nach drei Monaten zum ersten Mal sah, beschloss er, sich wieder nach Cape Breton Island aufzumachen, um mit seiner Familie zu leben und seine Kinder aufwachsen zu sehen. Auch Shianne, die 23-jährige Tochter, malt schon wunderschöne Bilder. Die Familie arbeitet als Team: Lorettas Ehemann entwickelt oft die Geschichte hinter den Bildern für Mutter und Tochter.

Die First Nations bevorzugen die neutrale und nicht diskriminierende Bezeichnung „Community“

Loretta hat ein großes Herz für ihre community und ist dort recht engagiert. Eine „community“ ist eigentlich ein Reservat, das den First Nations von der kanadischen Regierung zugewiesen wird. Aber die First Nations bevorzugen die neutrale Bezeichnung „community“. Während unseres Gesprächs höre ich heraus, dass Loretta nirgendwo anders auf der Welt leben möchte als in We´koqma´q auf Cape Breton Island. In diesem kleinen Ort ist sie aufgewachsen.
We´koqma´q hat ca. 850 Seelen und liegt am Bras D´Ór Lake. Dort hat sie die First Nation-Schule besucht.
Doch ihre künstlerischen Gaben sind erst später zur vollen Blüte gelangt, obwohl sie schon immer fashiondesigner, Modedesignerin, werden wollte. Heute entwirft sie zwar noch keine fashion, doch ihre Gemälde kann man auf Kleidern in einem fashion-Online-Shop erwerben.
Loretta hat einen klaren Blick – nicht nur für ihre Malerei. So verschließt sie auch nicht ihre Augen vor etlichen Problemen in ihrer community.

Viele Jugendliche haben keine Arbeit

Viele Jugendliche und Erwachsene haben keine Arbeit, weil ihre community keine bietet und „draußen“ finden sie erst recht keine. „They are bored!“ – „Ihnen ist langweilig“, stellt Loretta fest und mich wundert es, dass sie sich da so verhalten ausdrückt.
Denn die First Nation-communities sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in Kanada. Doch sie weisen die höchste Selbstmordrate unter Jugendlichen und sogar Kindern auf. In den letzten Jahren haben sich Hunderte von Kindern und Jugendlichen das Leben genommen.
Denn diesen fehlt in den Reservaten oft Frischwasser, gesundheitliche Versorgung und vor allem eine gute Schulbildung.
Wen wundert´s, dass sie dadurch wenig Hoffnung haben und schon gar keine Lebensperspektive entwickeln können.
Die Friends-United-Künstler versuchen deshalb in Schulen und Universitäten einen neuen Weg durch künstlerische Betätigung aufzuzeigen.
Auch Loretta hat viele Ideen und Träume, um sowohl Jugendlichen als auch Erwachsenen in ihrer community eine sinnvolle Lebensperspektive zu schenken.
Ich stelle immer wieder bei unterschiedlichen Begegnungen fest, dass die Mi´kmaq zuweilen gerne unter sich bleiben und sich nur vorsichtig vermischen wollen. Loretta stimmt dem zu: Denn nur auf diese Weise können sie ihre Kultur wiederentdecken und bewahren. Auf Cape Breton Island gibt es fünf Mi´kmaq-communities. Hier nach der offiziellen Schreibweise der Provinz Nova Scotia:
We´koqma´q (Lorettas Community)
Wagmatcook
Membertou
Eskasoni
Potlotek

Diese pflegen einen regen Austausch untereinander und auch die Jugendlichen „daten“ genauso per Smartphone wie ihre Altersgenossen woanders auf der Welt. Ich habe die Vermutung, dass es für „daten“ kein Begriff in der Sprache der Mi´kmaq existiert.
Who knows, wer weiß, wie das vor Jahrhunderten vonstatten ging. Während heute die jungen Leute in den Mi´kmaq-communities auf facebook und mit WhatsApp kommunizieren, hat man damals wahrscheinlich getrommelt, um sich zu verständigen. Man hat sich vielleicht am Lagerfeuer getroffen, was recht romantisch gewesen sein mag.

Diese naturverbundenen Menschen scheinen eine angeborene Begabung für Kreativität zu haben

Wie schon erwähnt: Loretta ist ein Naturtalent. Sie benötigt keine weiteren Hilfsmittel, um ihre Linien zu zeichnen. Trotzdem sind ihre Gemälde äußerst symmetrisch komponiert. Früher haben die First Nations auf Felsen gezeichnetund schon immer wunderschöne Kunstgegenstände angefertigt.
Diese naturverbundenen Menschen scheinen eine angeborene Begabung für Kreativität zu haben. Loretta ist glücklich, dass sie in ihrer community leben darf. So ist sie aufgewachsen. Es scheint eine sehr enge Gemeinschaft zu sein mit intensiven verwandtschaftlichen Beziehungen.
Valerie, ihre Kusine ersten Grades, hat neben ihren eigenen 14 Kindern die vier Kinder ihrer Schwester aufgenommen. Was für eine schöne und spontane Begegnung hatte ich mit ihr im Atlantic Superstore in Port Hawkesbury.
Die leidenschaftliche Künstlerin Loretta ruht in sich und ist dabei sehr engagiert. Auf die Frage, woher sie ihre innere Stärke bezieht und warum andere bei Drogen und sogar im Selbstmord enden, konnte sie keine Antwort geben.

Ihre Eltern mussten keine Residential Schools erleben und erleiden

Ihre Eltern mussten, im Gegensatz zu denen ihres Ehemanns, keine Residential Schools erleben und erleiden. Vielleicht haben jene dadurch ihre Seele und auch ihre Kultur bewahrt.
Loretta ist die Erste, die ich unter den First Nations bisher kennengelernt habe, die fließend Mi´kmaq spricht. Da die meisten First Nations über Jahrtausende ihre Oral Tradition pflegten, eine Kultur, die das Meiste mündlich von Generation zu Generation überliefert, kann auch Loretta ihre so schön klingende Sprache weder lesen noch schreiben.
Als Teenie hat sie oft darunter gelitten, dass sie zuhause nur Mi´kmaq sprechen durfte. Ihre Mutter war streng und achtete darauf, daheim nur in ihrer Stammessprache zu kommunizieren. Damals wusste Loretta das noch nicht zu schätzen, doch heute ist sie ihrer Mutter zutiefst dankbar.
Sie hat mit ihrer Sprache vermutlich ihre Kultur, ihre Identität und dadurch ihre Seele bewahrt.
Loretta strotzt vor ruhiger und besonnener Energie sowie Lebensmut. Sie macht sich keine Gedanken um das, was ihren Vorfahren in der Vergangenheit angetan wurde, denn das, was einst war, könnte sie sowieso nicht mehr ändern.
So packt sie das Leben heute an und schmiedet Pläne über das, was sie in Zukunft in ihrer community bewirken möchte. „Time to move forward“, stellt sie fest. „Es ist Zeit, voranzugehen.“